Prof. Dr. Louis-André Vallet, Forschungsdirektor am French National Centre for Scientific Research (Centre National de la Recherche Scientifique, CNRS), erklärte in seiner Präsentation im Rahmen der LIfBi Lectures Reihe am 14. Mai 2019 einen scheinbaren Widerspruch:
Viele Studien aus unterschiedlichen Ländern zeigen, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem höchsten erreichten Bildungsabschluss über die Zeit abgenommen hat. Dies belegen auch Daten von über einer halben Million Menschen aus sieben Arbeitskräfteerhebungen in Frankreich für Personen, die zwischen 1920 und 1922 bzw. 1974 und 1976 geboren sind. Betrachtet man bei den gleichen Generationen nur diejenigen, die das Abitur (oder einen gleichwertigen Abschluss) erlangt haben, hat der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Erreichen eines Hochschulabschluss im gleichen Zeitraum jedoch stetig zugenommen.
Dieses Paradoxon ist, wie führende Soziologen bereits in den 1970er und 1980er Jahren vorhergesagt hatten, darauf zurückzuführen, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion die Sortierprozesse in den Bildungslaufbahnen ‚entschärft‘ haben. Früher wurden Kinder früh und stark sortiert, so dass nur sehr wenige hochbegabte Arbeiterkinder das Abitur erreicht haben. Für diese wenigen war ein Studium dann ähnlich einfach zu absolvieren wie für Akademikerkinder. Heutige Abiturjahrgänge sind dagegen viel heterogener, weil immer mehr Kinder das Abitur erreichen. Der Vorteil für einzelne Arbeiterkinder an dieser Schwelle ist dadurch verlorengegangen. Die Schlüssigkeit dieser Erklärung belegte Vallet dann mit Daten von von zwei längsschnittlichen Bildungsdatensätzen aus Frankreich, die über 30 Jahre auseinanderliegen. Hier zeigt sich, dass sich innerhalb einer Kohorte die Schulleistungen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft nach jedem Übergang im Bildungssystem immer mehr aneinander angleichen. Betrachtet man die gleichen Übergänge im Kohortenvergleich, dann zeigt sich in der Tat, dass sich die Schulleistungen am gleichen Übergang in jüngeren Kohorten deutlich stärker voneinander unterscheiden als in älteren.
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