12,1 % der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, haben jedoch Mühe, einen längeren zusammenhängenden Text zu verstehen. Zum Zeitpunkt der ersten LEO-Studie 2010 war dafür noch der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ gebräuchlich, heute wird von geringer Literalität gesprochen. Literalität wird dabei als Teil der Grundbildung verstanden, die gesellschaftliche Teilhabe begünstigt. Anke Grotlüschen betonte in ihrer LIfBi Lecture jedoch, dass zu Grundbildungsangeboten, die positiv auf Teilhabechancen wirken, neben der Förderung von Literalisierung auch Integrationsmaßnahmen, Arbeitsmarktprogramme und Elternberatungen gehören.
Zu den Erwachsenen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz zählen mehr Männer als Frauen, mehr ältere als jüngere Menschen und fast die Hälfte der Betroffenen hat eine andere Herkunftssprache als Deutsch. In der aktuellen LEO-Studie wurde erstmals ausgewertet, ob geringe Lese- und Schreibkompetenzen bei Menschen mit nicht-deutscher Erstsprache auch in der Herkunftssprache vorliegen. Hier geben 78 % der Betroffenen an, in ihrer Erstsprache durchaus anspruchsvolle Texte lesen und schreiben zu können. Fördermaßnahmen im Bereich Literalisierung sind somit eng mit Maßnahmen zur Integration verknüpft.
Geringe Literalität in Alltag, Beruf und Gesellschaft
LEO 2018 zeigt, dass über 60 % der gering Literalisierten zwar erwerbstätig sind, allerdings vornehmlich in (prekären) Berufsfeldern, in denen Schreiben und Lesen kaum eine Rolle spielen. Dabei ist die Sorge der Betroffenen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, überdurchschnittlich hoch und ihr Zugang zu beruflicher Weiterbildung deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung.
Die berufliche Tätigkeit hat einen wesentlichen Einfluss auf die (Nicht-)Teilnahme an Maßnahmen zur Grundbildung: Während die meisten Befragten angeben, an solchen Maßnahmen zur Literalisierung teilzunehmen, um sich beruflich verbessern zu können, sind berufliche Restriktionen auch einer der Hauptgründe, an solchen Maßnahmen nicht teilzunehmen bzw. nicht teilnehmen zu können.
Grundkompetenzen und Teilhabe
Betrachtet wurden im Rahmen der LEO-Studie neben literalen Praktiken (Wie oft tue ich etwas?) auch funktional-pragmatische Kompetenzen (Was kann ich tun?) und kritisch-hinterfragende Kompetenzen (Kann ich das beurteilen?). Die Studienergebnisse zeigen, dass mit sinkendem Level der literalen Praktiken und der funktionalen sowie kritischen Kompetenzen die Gefahr eines Teilhabeausschlusses ansteigt.
Im Hinblick auf Kommunikation nutzen gering literalisierte Menschen überproportional häufig Sprachnachrichten und Videoanrufe. Tagesaktuelle Nachrichten werden zwar häufig, aber vor allem über das gesprochene Wort (Videos, Fernsehen) konsumiert. Personen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen unterhalten sich jedoch deutlich seltener über aktuelle politische Themen im Freundes- und Bekanntenkreis.
Gerade im Hinblick auf die Corona-Pandemie und zunehmenden Rechtspopulismus/-extremismus sieht Anke Grotlüschen deshalb konkrete Gefahren für gering literalisierte Menschen. Denn die Gefährdung von Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten zeigt sich im Alltag zunächst in den Lese- und Schreibpraktiken – in größerem Maße aber in den funktional-pragmatischen und kritisch-hinterfragenden Kompetenzen in den Domänen Politik, Gesundheit, Finanzen und Digitalisierung.
In der abschließenden Diskussion erörterten Anke Grotlüschen und ihre Zuhörerinnen und Zuhörer unter anderem die Möglichkeiten vergleichender Analysen mit LEO-Daten und Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), wobei große Einigkeit über das Potenzial der Kombination beider Datenquellen herrschte.
Link [extern] zur Profilseite von Prof. Dr. Anke Grotlüschen an der Universität Hamburg
Link [extern] zur Aufzeichnung der LIfBi Lecture