Beim zweiten Vortrag der Reihe LIfBi Lectures im laufenden Sommersemester spielten digitale Medien nicht nur inhaltlich eine Rolle, sie sorgten auch für eine Premiere: Ulrike Cress, Direktorin des IWM besuchte das LIfBi Corona-bedingt nur virtuell und hielt die LIfBi Lecture erstmals in einer Videokonferenz.
Cress stellte zunächst das Leibniz-Institut für Wissensmedien vor, und präsentierte dabei ausgewählte Projekte sowohl im Bereich der Forschung wie auch im Wissenstransfer für die Gesellschaft. In ihrem anschließenden Vortrag zum Thema „Kollaborative Wissenskonstruktion: Wie entsteht Wissen im digitalen Zeitalter?“ beschäftigte sie sich mit individuellen und sozialen Prozessen der Wissenskonstruktion.
Die Wikipedia und andere gemeinschaftlich erzeugte Enzyklopädien sind anschauliche Beispiele dafür, dass Wissen nicht nur rezipiert, sondern zunehmend auch kollektiv erzeugt wird. In dieser gemeinsamen Wissenskonstruktion wird die soziale Dimension von Wissen sichtbar: In den entsprechenden Communities sind Nutzende mit hoch dynamischen, selbstorganisierten, sozialen Systemen konfrontiert, die die Einzelnen in das eigene Regelwerk zwingen.
Auf die Individuen, die in diesem Systemen arbeiten, wirkt das Regelwerk, in dem die kollaborative Arbeit stattfindet, ihrer Diagnose nach stark regulierend: Wahr ist jeweils das, was dieses System für wahr hält. Abweichende Meinungen oder neue Informationen werden in einem stetigen Prozess in Frage gestellt, geprüft, angepasst, akzeptiert oder verworfen. Das gilt für wissenschaftlich fundierte Aussagen genauso wie für Weltverschwörungstheorien.
Besonderheiten dieser sozialen, sinnerzeugenden Systeme sind also einerseits ihre starke Selbstregulation (die im Fall von Wikipedia zu einer hohen Qualität des generierten Wissens beiträgt) und andererseits die Fähigkeit, durch Störungen oder Irritationen zu lernen und sich so weiterzuentwickeln.
Als Beispiel für diese Wirkweisen nannte Cress die Genese des deutschen Wikipedia-Artikels zum atomaren Zwischenfall in Fukushima, der bereits sieben Stunden nach dem Ereignis erstellt wurde. Parallel zum Artikel entwickelte sich schnell eine Metadiskussion zwischen den Nutzenden über die Qualität und Validität von Belegen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IWM folgerten daraus, dass Wissensgeneration sich als Ko-Evolution von kognitiven und sozialen Systemen darstellt. „Störungen” führen bei diesen Interaktionen zur Weiterentwicklung von Regeln, zu individuellem und kollektivem Lernen und – zumindest in der Wikipedia – damit auch zu besserem Wissen. Ihren Analysen nach ist dabei ein mittleres Maß an Irritation von außen am wirksamsten für die Weiterentwicklung.
Problematisch wird es laut Cress dann, wenn das Regelwerk, das der Wissensgeneration zugrunde liegt, selbst schon ideologisch oder extremistisch geprägt ist. Hier können sich schnell Echokammern extremer Meinungen bilden, die von außen nur schwer aufzubrechen sind.